20 Mai 2012

Wenn ich ein irischer Wähler wäre

Die Iren dürfen mal wieder über Europa abstimmen. Aber was ihre Entscheidung bedeuten wird, liegt nicht in ihrer Hand.
Am 31. Mai dürfen die Iren mal wieder ein Europa-Referendum durchführen. Es ist das erste seit demjenigen über den Vertrag von Lissabon, Thema ist die Ratifikation des Fiskalpakts, und die irische Regierung hat zugesichert, diesmal solle (ausnahmsweise) die Abstimmung nicht so lange wiederholt werden, bis das Ergebnis passt. Die Spannung ist also groß, auch wenn die Umfragen auf ein deutliches Ja hindeuten. Außerhalb von Irland läuft sich unterdessen bereits wieder die Empörungsmaschinerie der Freunde von nationalen Volksentscheiden warm: Wie kommt es, dass die Iren als Einzige direkt über den Vertrag abstimmen? Warum dürfen wir nicht genauso ran?

Doch bevor der Neid auf die Iren allzu groß wird, sollte man sich vielleicht die Frage stellen, wie man eigentlich selbst abstimmen würde, wenn man in ihrer Lage wäre. Ich persönlich wüsste das jedenfalls nicht. Dabei habe ich durchaus eine Meinung zum Fiskalpakt: Ich denke, dass er mittelfristig deutlich mehr Schaden als Nutzen anrichten wird, und wenn es einen gesamteuropäischen Volksentscheid darüber gäbe, würde ich mit Nein stimmen. Doch bei dem irischen Referendum geht es nicht um den Fiskalpakt insgesamt, sondern nur um die irische Ratifikation – und letztlich zeigt die Abstimmung dort nur, wie absurd es ist, nationale Referenden über europäische Themen durchzuführen. Denn die Iren können zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich wissen, was es bedeutet, wenn sie Ja oder Nein ankreuzen, und das gleich aus zwei verschiedenen Gründen.

Erstens: Der Fiskalpakt ist Work in Progress

Eigentlich ist der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, vulgo Fiskalpakt, längst fertig. Am 2. März 2012 wurde er unterzeichnet, Griechenland, Portugal und Slowenien haben bereits ratifiziert. Wer ihn sich durchlesen will, findet ihn auf der Homepage des Europäischen Rates (hier die deutsche Version). Man könnte also meinen, dass die Iren wissen, worum es geht.

Doch so einfach ist die Sache nicht. Bekanntlich gab der neue französische Präsident François Hollande (PS/SPE) vor seiner Wahl das Versprechen, den Fiskalpakt „nachzuverhandeln“. An diesem Mittwoch, gerade einmal acht Tage vor dem irischen Referendum, wird es ein „informelles Abendessen“ des Europäischen Rates geben, wo über seine Forderungen gesprochen werden soll. Zu den Vorschlägen gehören unter anderem die Einführung von Eurobonds sowie eine von dem italienischen Premierminister Mario Monti ins Spiel gebrachte „Goldene Regel“, derzufolge staatliche Investitionen bei der Berechnung des öffentlichen Defizits nicht (oder nur teilweise) mitzählen sollen. Während Eurobonds eine neue Vertragsänderung erforderlich machen würden, handelt es sich bei Montis Idee formell nur um eine technische Frage, die per Verordnung geregelt werden könnte. Beide Pläne aber würden dem Fiskalpakt einen völlig neuen Sinn geben und einige seiner schlimmsten Folgen deutlich abmildern (siehe auch hier).

Es kann nun durchaus sein, dass bei dem informellen Abendessen ein Beschluss über diese Vorschläge fällt. Angesichts der vehementen Gegenwehr von Angela Merkel ist es jedoch wahrscheinlicher, dass alle Entscheidungen auf den nächsten offiziellen Gipfel im Juni verschoben werden. Die tatsächliche Umsetzung der Vorschläge wird ohnehin frühestens in den nächsten Monaten erfolgen. Die Iren werden also über einen Vertrag abstimmen, dessen Bedeutung sich – je nachdem, ob sich Hollande und Monti am Ende durchsetzen oder nicht – noch gravierend verändern kann.

Zweitens: Unklarheit über das Inkrafttreten des Vertrags

Noch schwerwiegender für die Iren ist jedoch eine andere Frage: Ob der Fiskalpakt in Kraft treten wird oder nicht, ist derzeit noch nicht zu sagen. Bedingung dafür ist die Ratifikation durch zwölf Euro-Staaten – sobald diese erreicht ist, ist der Vertrag wirksam, allerdings nur für die Länder, die auch tatsächlich ratifiziert haben. Mit dem Referendum entscheiden die Iren darüber, ob der Fiskalpakt für sie gelten soll; ob er für den Rest der Mitgliedstaaten gilt, haben sie nicht in der Hand. Das war eine der Lektionen aus dem Lissabon-Referendum: Die Regierungschefs wollten vermeiden, dass noch einmal ein einzelnes Land das Inkrafttreten des gesamten Vertrags verhindern kann.

Doch der Fiskalpakt steht nicht für sich allein, sondern hängt auch mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus zusammen (also dem dauerhaften Euro-Rettungsschirm, der derzeit ebenfalls zur Ratifikation aufliegt). In Erwägungsgrund 5 des ESM-Vertrags heißt es, es sei „anerkannt und vereinbart, dass die Gewährung von Finanzhilfe im Rahmen neuer Programme durch den ESM ab dem 1. März 2013 von der Ratifizierung des VSKS [d.h. des Fiskalpakts] durch das betreffende ESM-Mitglied abhängt“. Mit anderen Worten: Wer den Fiskalpakt nicht ratifiziert, soll künftig auch kein Geld aus dem Rettungsschirm erhalten.

Nun ist der rechtliche Wert dieser Regelung zweifelhaft – die Erwägungsgründe sind nur Teil der Präambel, die eigentlich keine juristische Bedeutung hat. Außerdem ist auch unklar, was eigentlich passieren würde, wenn der ESM-Vertrag in Kraft tritt, der Fiskalpakt aber nicht. Auf jeden Fall aber käme Irland in eine unangenehme Lage, wenn es am Ende das einzige Land wäre, das den Fiskalpakt nicht ratifiziert hat. Zwar würde, Erwägungsgrund hin oder her, der Rest der Eurozone das Land wohl schon aus Eigeninteresse auch in Zukunft nicht fallen lassen, wenn es in einer schweren Finanzkrise Hilfe aus dem ESM benötigt. Aber jedenfalls bliebe ein Zweifel erhalten, und der würde sich unmittelbar in einem höheren Risikoaufschlag für irische Staatsanleihen niederschlagen.

Wenn ich Ire wäre

Wenn ich ein irischer Wähler wäre, befände ich mich jetzt in einer widersprüchlichen Lage: Da ich der Meinung bin, dass der Fiskalpakt schlecht für die EU ist, würde ich gegen die Ratifizierung stimmen wollen – weil das vielleicht die einzige Möglichkeit ist, das Inkrafttreten noch zu verhindern. Gleichzeitig garantiert aber auch ein irisches Nein noch nicht das Scheitern des Vertrags. Und falls die anderen Mitgliedstaaten das Ratifikationsverfahren zum Abschluss bringen und der Vertrag am Ende doch in Kraft tritt, dann würde ich als irischer Wähler nicht wollen, dass mein Land außen vor bleibt. Welche Option ich auf dem Stimmzettel ankreuzen will, wäre also davon abhängig, wie sich die übrigen Mitgliedstaaten verhalten. Da ich das jedoch nicht weiß, hätte das Referendum für mich keinen Sinn.

Natürlich hätte es Möglichkeiten gegeben, die Volksabstimmung so zu gestalten, dass sie auch auf die Abhängigkeit von den restlichen Ländern eingeht: Zum Beispiel hätte man eine Zusatzfrage stellen können, die nur zum Tragen kommt, falls eine Mehrheit der anderen Mitgliedstaaten die Ratifikation beschließt. Oder man hätte gleich ein gesamteuropäisches Referendum über den Fiskalpakt durchführen können, mit zusätzlichen nationalen Volksentscheiden, ob das jeweils eigene Land sich bei einem Inkrafttreten daran beteiligen soll. In der Art jedoch, wie das Referendum am 31. Mai formuliert sein wird, bietet es dem Wähler keine Möglichkeit, auf bedeutungsvolle Weise seinen Willen zum Ausdruck zu bringen. Es ist nichts als ein hohles Ritual nationaler Demokratie, das in einem Europa, wo alle voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind, seine Funktion verloren hat.

Bild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F011303-0007 / Steiner, Egon / CC-BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de], via Wikimedia Commons.

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