20 März 2014

Politische Union: Der Schmetterlingseffekt eines einzelnen Wortes

Die Idee einer EU-Vertragsreform ist in der Welt – es wird Zeit, über unsere Prioritäten zu sprechen. In einer losen Serie von Gastartikeln antworten Europa-Blogger hier auf die Frage: „Wenn du eines an den EU-Verträgen ändern könntest, was wäre es?“ Heute: Horațiu Ferchiu. (Zum Anfang der Serie.)


Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Artikel 3 des EU-Vertrags einen Sturm in der Europäischen Union auslösen?
Einen einzelnen Artikel in einem der EU-Verträge zu ändern dürfte in etwa denselben Effekt haben wie der Flügelschlag eines Schmetterlings in der Chaostheorie. Der Verlauf des europäischen Projekts, mit all seinen überraschenden Biegungen und Wendungen, war für die meisten Menschen ein sehr unwahrscheinliches Ergebnis. Aber natürlich gab es auch jene, die immer an den Traum geglaubt hatten. Und ihre Anstrengungen sind es, die uns dorthin gebracht haben, wo wir heute stehen.

Ich habe über die Idee, eine einzelne Bestimmung der Verträge zu ändern, lange nachgedacht. Es ist sehr schwierig, sich auf eine zu begrenzen, da es viele Dinge gibt, die ich gerne ändern würde. Aber nachdem ich noch einmal die Verträge durchgegangen bin, wurde mir klar, dass ich auf den Schmetterlingseffekt setzen sollte – auf jene eine kleine Modifizierung, die einen so großen Wandel auslöst, dass sie uns, sagen wir in zehn bis fünfzehn Jahren, zu einer echten Veränderung führen kann.

Was ich gerne ändern würde

Mein Blick blieb daher an Artikel 3, Absatz 4 der konsolidierten Version des Vertrags über die Europäische Union hängen: „Die Union errichtet eine Wirtschafts- und Währungsunion, deren Währung der Euro ist.“ Dies ist der Artikel, den ich am meisten für reformwürdig halte, denn eine Änderung hier könnte kleine Revolutionen in allen anderen Artikeln des Vertrags auslösen und zuletzt unser Leben verändern.

Die Änderung, an die ich denke, ist, den Artikel folgendermaßen neu zu fassen: „Die Union errichtet eine Wirtschafts-, Währungs- und Politische Union, deren Währung der Euro ist.“ Ich habe darüber nachgedacht, auch noch Sozialunion hinzuzufügen, aber in vieler Hinsicht ist dieses Konzept ohnehin bereits in jenem der politischen Union enthalten.

Und warum ändert die Ergänzung von „politische Union“ etwas?

Zunächst einmal würde diese Änderung verlangen, dass wir eine Entscheidung über die Zukunft der Union treffen, bedeutet „politische Union“ doch nichts anderes als das Ende des Nationalstaats. Es impliziert die Anerkennung einer spezifischen EU-Staatsangehörigkeit, einem komplexeren Konstrukt als jenem, auf dem die heutige „Unionsbürgerschaft“ basiert. Der Nationalstaat, wie wir ihn heute kennen, müsste einen Prozess durchlaufen, in dem er sowohl nach oben als auch nach unten Autorität abgibt – einige der Hoheitsrechte, die heute bei den nationalen Behörden liegen, sollten nach oben an die neue Institution übertragen werden; andere nach unten an die Regionen (NUTS 1 oder 2, je nach den Besonderheiten des Einzelstaats).

Die Macht der einzelnen Mitgliedstaaten sollte sich in beide Richtungen auflösen und, unter Aufrechterhaltung einer klaren Unterteilung zwischen exekutiver, legislativer und judikativer Gewalt, auf die verschiedenen Entscheidungsebenen verteilt werden. Man könnte Parallelen zum föderalen System der USA ziehen, wenngleich bedeutende Abwandlungen davon nötig sind, wenn es auf die Realität der EU passen soll.

Regionale Parlamente und das Europäische Parlament

Zweitens würde die „politische Union“ auf dem ganzen Kontinent eine endgültige Unterscheidung zwischen einer Politik der oberen Ebene und einer Politik der regionalen Ebene bringen. Sie würde bedeuten, dass die europäischen Parteien nicht mehr aus vielen nationalen Einzelparteien bestehen, und die Tür für echte gesamteuropäische Parteien öffnen, mit einer eigenen gesamteuropäischen Mitgliedschaft und lokalen Vertretern. Die bestehenden nationalen Parteien würden sich ebenfalls an diese neue Realität anpassen und ihren Zuschnitt und politischen Mittel daran ausrichten müssen.

Ein System von Regionen mit ihren jeweils eigenen Parlamenten würde eine bessere Repräsentation auf dieser untersten Ebene der Gesetzgebung ermöglichen, mit Politikern, die näher am Geschehen und an den Bürgern sind. Darüber hinaus könnte auch eine zweite Kammer des Europäischen Parlaments, die in regionalen Wahlkreisen gewählt würde, zur Verbesserung der Demokratie beitragen, da sie den Bürgern erlauben würde, auch über ihren regionalen Vertreter auf europäischer Ebene abzustimmen. Die Wahlen zum Europäischen Parlament könnten dann in noch kleinere Wahlkreisen als der Region erfolgen und sich auf tatsächlich europäische Themen konzentrieren. Letztlich würde dies zu einer dreifachen demokratisch gewählten Vertretung führen: ein lokales Regionalparlament, das Europäische Parlament und die auf regionaler Ebene gewählte zweite europäische Kammer

Eine bessere Debatte und eine gewählte politische Führung

Eine politische Union würde notwendigerweise viele der Debatten ändern, die derzeit auf der EU-Agenda stehen. Fragen der sozialen Sicherheit, des Umweltschutzes, der Binnenmigration – sie alle könnten auf der höheren Ebene verhandelt werden und ein Ausgangsniveau setzen, das von allen zu respektieren wäre. Lokale Parlamente könnten dann diese Regulierungen ergänzen, einige von ihnen durch Volksabstimmungen blockieren oder sich gar zusammentun, um ein Veto dagegen einzulegen. Denn wenn beispielsweise ein Gesetzgebungsakt auf gesamteuropäischer Ebene verabschiedet würde und zwei Drittel aller Regionen ihn in lokalen Abstimmungen ablehnen, dann könnte und sollte der entsprechende Rechtsakt verworfen werden.

Vor allem aber würde eine politische Union ein sehr viel weitergehendes Gefühl der Einheit schaffen, als wir es heute sehen. Die Teilnahme an einer höchstrangigen Wahl auf gesamteuropäischer Ebene würde den Bürgern erlauben, mit EU-Themen in Kontakt zu kommen, sie sich anzueignen und sie zu unterstützen. Wenn Parteien, die Vertreter ins Europäische Parlament schicken wollen, in mindestens zwei Dritteln aller Regionen mit Mitgliedern und Kandidaten vertreten sein müssten, würde dies sicherstellen, dass Themen breit diskutiert und der größtmöglichen Bevölkerungsgruppe vorgestellt werden. Dies wiederum würde bedeuten, dass die gewählten Mitglieder des Europäischen Parlaments in engerem Kontakt mit ihrer Wählerschaft stünden und besser mit ihnen kommunizieren. Hiervon würde jeder profitieren.

Implementierung: Die Exekutive

Neben der Gesetzgebung haben wir die Exekutivgewalt. Während das heutige Brüssel in Sachen Repräsentation mehr und mehr umstritten ist, würde eine Entwicklung zur Politischen Union dazu führen, dass sich die Bürger besser vertreten fühlen würden. Zugleich würde sie ermöglichen, dass die Menschen sich besser in die Spitzenpolitik eingebunden fühlen. Ob wir dabei über einen EU-Präsidenten sprechen oder über ein Gremium direkt gewählter Vertreter, die sich eine rotierende Präsidentschaft teilen, ist weniger wichtig. Was wir brauchen, ist keine Auseinandersetzung über technische Merkmale unterschiedlicher Integrationsmodelle (Föderation oder Konföderation), sondern die Möglichkeit zu einer demokratischeren Wahl unserer Spitzenpolitiker.

Ich habe das derzeitige System, den Europäischen Rat und die Kommission selbst, immer als bemerkenswert undemokratisch angesehen. Sieht man etwa auf den Europäischen Rat, so sind seine Mitglieder demokratisch gewählte Staats- und Regierungschefs (Premierminister oder Präsidenten); doch dies wird weniger eindeutig, wenn man betrachtet, wie sie eigentlich gewählt wurden – theoretisch durch den Willen der Bevölkerungsmehrheit, aber meistens handelt es sich eigentlich nur um die Person oder einen Vertreter der Partei, die die meisten Stimmen von jenen erhielt, die auch wirklich an der Wahl teilnahmen. Wenn wir nun also annehmen, dass zu einer Wahl 40% der Wahlberechtigten erscheinen und 60% von diesen einen bestimmten Politiker wählen, so ist dieser tatsächlich nur von 24% der stimmberechtigten Bevölkerung gewählt. Und dann stecken sie alle zusammen hinter verschlossenen Türen, um über unsere Zukunft zu entscheiden.

Könnten die Menschen ihre Stimme in einer direkteren Form ausdrücken, und könnten sie davon ausgehen, dass ihre Entscheidung tatsächlich einen Unterschied macht, so würden sie auch eher an der Wahl teilnehmen. Dies hängt auch mit den verhandelten Themen zusammen – wichtige Themen könnten eine wichtigere Rolle im Wahlprozess spielen.

Die Exekutive würde dann wiederum auf zwei Ebenen differenziert werden – eine regionale und eine europaweite. Dies bedeutet, dass Menschen einmal wählen gehen würden, um über ihre unmittelbaren Bedürfnisse abzustimmen – lokale Steuern, Bildung, allgemein regionale Themen, die sie aus ihrer Erfahrung kennen –, und einmal auf der höheren Ebene – wo sie sich als Teil einer größeren Debatte fühlen würden, die ihre und ihrer Kinder Zukunft betrifft. Wiederum gäbe es viele Möglichkeiten für die Art, wie die Exekutive auf regionaler und europäischer Ebene ausgestaltet sein sollte. Worauf es ankommt, ist, dass Menschen tatsächlich mit ihrer Stimme eine Auswahl und eine Entscheidung treffen könnten.

Gesetze und Rechtsprechung

In Bezug auf die Judikative wären die Dinge noch einfacher: Der Europäische Gerichtshof existiert bereits, arbeitet erfolgreich und müsste nur kleineren Änderungen unterzogen werden. Grundlage sollte ein gemeinsamer Rechtskodex sein, den die regionalen Gesetzgebungsorgane um spezifische eigene Rechtsakte für ihr Territorium ergänzen könnten, solange diese nicht in Konflikt mit der gesamteuropäischen Gesetzgebung kämen. Diese würde auch ein gemeinsames Bürgerliches Gesetzbuch und ein gemeinsames Strafrecht umfassen, sodass die Bürger in der ganzen Union dieselben Rechte und Zugang zu derselben Art von Gerichtsverfahren hätten.

Einen gemeinsamen Rechtskodex zu entwickeln bedeutet im Wesentlichen, sich auf bestimmte Prinzipien zu einigen und dann den angemessenen Weg zu finden, um diese Prinzipien umzusetzen. Dies wird in Mitgliedstaaten wie Großbritannien, mit ihrem anderen Rechtssystem, schwieriger fallen. Aber da ein Vergehen ein Vergehen ist, unabhängig davon, wo es geschieht, sollte auch das Justizwesen in der ganzen Union einheitlich sein.

Das Schlagen der Schmetterlingsflügel

Alles ist möglich, wenn einmal die Entscheidung getroffen wurde, eine politische Union ins Leben zu rufen. Vor allem da es das Niveau demokratischer Repräsentation auf dem ganzen Kontinent verbessern und eine Art „Union der Gedanken“ schaffen würde, wenn es echte europaweite Parteien mit europaweiten Themen und Projekten gäbe. Bis jetzt machen es die Unterschiede zwischen den Parteien verschiedener Länder – selbst wenn sie zur selben europäischen Familie gehören – unmöglich, dass ein Wähler in Spanien die gleiche Meinung ausdrückt wie einer in Rumänien, oder ein Deutscher die gleiche wie ein Grieche und so weiter.

Eine EU-weite Partei hingegen müsste in Spanien, in Polen, in Griechenland jeweils dieselbe Agenda vertreten. Implizit würde dadurch auch der Nationalpopulismus, wie wir ihn heute kennen, weitgehend aus der EU-Politik verschwinden. Vermutlich würde es auf regionaler Ebene weiterexistieren, aber dort müsste es sich mit einer näheren und kleineren Wählerschaft auseinandersetzen – und mit einer höheren Ebene, die einen gewissen Grad an Kontrolle ausüben könnte. Dies führt zu einer neuen Realität, in der die großen EU-Themen nicht mehr von der lokalen Politik bestimmt werden, sondern die Bürger die Möglichkeit haben, die Dinge direkt anzugehen.

Eine politische Union würde zu einer anderen Art von Union führen. Sie würde viele Änderungen mit sich bringen und notwendigerweise, wie eine Naturgewalt, auch zu neuen Vertragsreformen führen. Wenn ich also einen Artikel aussuchen müsste, so wäre es dieser hier, denn diese eine Änderung bedeutet, das ganze Konstrukt der EU voranzutreiben – mit dem Flügelschlag eines einzigen Schmetterlings oder, in diesem Fall, der Ergänzung eines einzigen Wortes.

Horațiu Ferchiu ist Stadt- und Regionalplaner und lebt in Bukarest. Er ist Vizepräsident des Rumänischen Verbands Europäischer Föderalisten (AFER) und schreibt auf fedeu.blogactiv.eu über die Entwicklung des europäischen Projekts, vor allem zu Fragen der Identität, Bevölkerung, Föderalismus und einer demokratischeren und innovativeren EU.
 
Wenn du eines an den EU-Verträgen ändern könntest, was wäre es? – Übersicht

1: Wenn du eines an den EU-Verträgen ändern könntest, was wäre es?
2: Für eine wirklich demokratische Kommission ● Eurocentric
3: Gegen die schleichende Kompetenzübertragung: Ein Subsidiaritätstest vor dem Europäischen Gerichtshof ● Martin Holterman
4: Politische Union: Der Schmetterlingseffekt eines einzelnen Wortes ● Horațiu Ferchiu
5: Menschen, nicht Mitgliedstaaten: Eine Vertragsreform für ein neues Zeitalter politischer Organisation ● Protesilaos Stavrou
6: Eine Klausel für sozialen Fortschritt ● Eric Bonse 

Bilder: Werner Seiler (User:Centine) (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons; privates Foto [alle Rechte vorbehalten].

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