30 September 2014

Deutsche Führung und europäische Demokratie

Unter dem Titel „Review 2014 – Außenpolitik weiter denken“ organisiert das Auswärtige Amt dieses Jahr eine große Debatte über die Ausrichtung der deutschen Außenpolitik. Neben anderen Kommentatoren wurde auch ich um einen Beitrag dafür gebeten, den ich hier crossposte. Das Original ist hier zu finden.

Ein schwarz-rot-goldener Sonnenuntergang, irgendwo in Europa.
Wenn sich die europapolitischen Kommentatoren dieser Review 2014 in einer Frage einig sind, dann dass die deutsche Bundesregierung in den letzten Jahren eine Führungsrolle in der Europäischen Union übernommen hat. In gewisser Weise fiel ihr diese durch die Eurokrise nolens volens in den Schoß: Da die supranationalen Institutionen (Kommission und Europäisches Parlament) nicht genügend Kompetenzen besaßen, um aus eigener Kraft den Zerfall der Währungsunion zu verhindern, gewann der intergouvernementale Europäische Rat als Entscheidungszentrum an Bedeutung. Und da ohne eine Beteiligung des wirtschaftsstärksten EU-Mitglieds Deutschland die nötigen Hilfskredite für die Krisenstaaten nicht das nötige Volumen erreicht hätten, führte im Europäischen Rat plötzlich kein Weg mehr an der deutschen Bundesregierung vorbei.

Ganz unwillkommen scheint diese Führungsrolle der deutschen Politik allerdings nicht zu sein. So unterstützte Kanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) 2010 mit ihrem Konzept einer „neuen Unionsmethode“ ausdrücklich den Trend zu einem größeren Gewicht des Europäischen Rates. 2012 wurden in deutschen Regierungsparteien Stimmen laut, die für Entscheidungen der Europäischen Zentralbank die Einführung eines deutschen Vetorechts forderten. In seinem Urteil über den Europäischen Stabilisierungsmechanismus erklärte das Bundesverfassungsgericht Anfang 2014 das deutsche Vetorecht im ESM sogar zur Bedingung für dessen Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz – und das, obwohl fast alle anderen Euro-Staaten zuvor auf ein solches Vetorecht verzichtet hatten. Dass „in Europa auf einmal Deutsch gesprochen“ wird, wie es der CDU-Fraktionschef Volker Kauder 2011 formulierte, liegt also durchaus auch daran, dass die deutsche Politik (mehr oder weniger aktiv und mehr oder weniger offen) auf eine institutionalisierte Vorrangstellung hinarbeitet.

Die deutsche Antwort auf die Eurokrise

Zudem machte die Bundesregierung schon früh sehr deutlich, wozu sie ihre Führungsrolle einsetzen möchte. Anders als in Sicherheits- und Verteidigungsfragen, wo sie nur allmählich ihre traditionelle Zurückhaltung aufgibt, gab sie in der Wirtschaftspolitik einen klaren Kurs vor. Die harten Sparmaßnahmen, die Rückschnitte im Sozialsystem sowie die tiefgreifenden Strukturreformen (etwa in Form flexiblerer Lohnmodelle oder eines reduzierten Kündigungsschutzes), zu denen sich die Krisenstaaten verpflichten mussten, entsprachen im Wesentlichen dem von der Bundesregierung bevorzugten Lösungsansatz. Umgekehrt scheiterten verschiedene Alternativvorschläge wie die Einführung von Eurobonds vor allem am deutschen Nein zu jeglicher Form von „Transferunion“.

Man darf der Bundesregierung wohl unterstellen, dass sie dabei nach ihrer eigenen Überzeugung nicht nur nationale Interessen, sondern auch das Wohl der EU insgesamt im Blick hatte. Die in Deutschland verbreitete Lesart, dass die Krisenursache allein in der exzessiven Staatsverschuldung und dem verkrusteten Wirtschaftssystem einiger Mitgliedstaaten zu suchen sei, lässt eine Kombination aus Austerität und Strukturreformen als Lösung durchaus plausibel erscheinen.

Problematisch ist daran allerdings, dass diese Lesart unter Ökonomen mindestens umstritten ist, da sie systemische Mängel in der Gestaltung der Währungsunion – etwa das Fehlen automatischer interregionaler Konjunkturstabilisatoren, für die zwischenstaatliche Transfers unverzichtbar sind – völlig außer Acht lässt. Aus einer weniger freundlichen Perspektive scheint es deshalb, als ob die Bundesregierung zwar den Krisenstaaten gewaltige Opfer abfordert, dabei aber selbst die Zugeständnisse verweigert, die für eine wirkliche Lösung nötig wären. Während viele Deutschen befürchten, in Europa zum Zahlmeister zu werden, haben sie bei vielen Südeuropäern längst den Ruf eines eigennützigen Zuchtmeisters gewonnen.

Legitimität gewinnt die EU nur durch mehr Demokratie

Damit aber verweist der Streit über den richtigen wirtschaftspolitischen Kurs in der Eurokrise auf ein viel tiefer liegendes Problem: Die europäische Integration ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass sich für viele der auf EU-Ebene verhandelten Themen keine einfachen, „objektiv richtigen“ Lösungen mehr finden lassen. Es handelt sich nicht mehr um technische, sondern um genuin politische Entscheidungen, bei denen auch subjektive Bewertungen eine zentrale Rolle spielen. Selbst wenn die Bundesregierung nach ihrem eigenen Verständnis zum Wohl der gesamten EU handelt, kann sie deshalb nicht erwarten, dass diese Interpretation von allen europäischen Bürgern geteilt wird. Vielmehr kann Legitimität in solch politischen Fragen nur durch demokratische Verfahren erzeugt werden: durch die Möglichkeit aller europäischen Bürger, gleichberechtigt an der europäischen Entscheidungsfindung zu partizipieren.

Dieses Postulat einer europäischen Demokratie aber ist mit der Idee, dass ein einzelner Staat in Europa die Führung übernimmt, grundsätzlich unvereinbar. Über die demokratischen Verfahren auf nationaler Ebene ist jede Regierung strukturell nur ihrer eigenen nationalen Wählerschaft verantwortlich, nicht aber jener der übrigen Mitgliedstaaten. Wenn Bürger mit ihrer eigenen Regierung unzufrieden sind, so können sie sie abwählen. Für die Unzufriedenheit mit der Regierung eines anderen Landes gibt es hingegen keine demokratischen Kanäle – außer der Zuflucht in eine „nationale Souveränität“, die sich jegliche „Einmischung von außen“ verbittet. Das aber wäre das Ende der europäischen Integration, die ja gerade auf eine wachsende grenzüberschreitende Verflechtung abzielt.

Was Deutschland jetzt tun kann

Die Verantwortung für das europäische Gemeininteresse kann deshalb nicht bei einer einzelnen nationalen Regierung liegen (und sei sie noch so wohlwollend!), sondern nur bei den supranationalen Institutionen, die alle Europäer gemeinsam gewählt haben. Die Eurokrise und ihre Folgen sind nicht Fragen der nationalen Außen-, sondern der europäischen Innenpolitik.

Und was heißt dies nun für die deutsche Bundesregierung? Wie eingangs erwähnt, hat sie ihre Führungsrolle in Europa teilweise aus der Dynamik der Krise heraus gewonnen, teilweise aber auch durch aktives eigenes Zutun. Wenn sie die Legitimität der EU insgesamt nicht gefährden will, so müsste sie nun ebenso aktiv daran arbeiten, die Verantwortung für die großen europäischen Fragen wieder aus den eigenen Händen in jene der Kommission und des Europäischen Parlaments zu übertragen. Dafür aber müssen die europäischen Verträge geändert werden. Und wer, wenn nicht Deutschland, wäre derzeit in der Lage, eine solche demokratische Reform zu initiieren?

Bild: eLKayPics [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

2 Kommentare:

  1. Hallo Manuel Müller,

    ich schätze Ihre Analysen sehr. Allerdings scheinen mir diesmal viele Punkte, 10, 20. 30 Jahre zu spät bzw. ich wundere mich, dass Sie überhaupt noch der Rede wert sind:

    - EU-Themen waren noch nie einfach technische, sondern schon immer genuin politische Entscheidungen. Das klingt als hätten Sie das Wesen EU zum ersten mal begriffen und reiben sich erstaunt die Augen.
    - natürlich handelt die Bundesregierung im eigenen Interesse, so wie alle 28 EU-Regierungen - was denn sonst? Hatten sie gedacht, die Bundesregierung handele in einem europäischen Interesse? Das geht doch schon technisch gar nicht, wer sollte dieses denn definieren?
    - und natürlich finden nicht alle EU-Bürger die Politik der Bundesregierung toll, auch nicht alle deutschen
    - und natürlich haben wir eine verquere Legitimation. Welche deutsche Wähler hat denn seine Regierung jemals abgwählt für das, was sie im Europäischen Rat oder im Ministerrat tat oder nicht tat? Im Bundestagswahlkampf geht es regelmäßig um rein nationale Themen - de Facto gibt es keine bewusste, gelebte Legitimation dieser EU-Politik der Regierungen, vor allem dann, wenn das EU-Parlament außen vor bleibt

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    1. Hallo, Anonym, wenn Sie meine Analysen schon länger lesen, dann wissen Sie sicher, dass ich verschiedene der hier erwähnten Punkte auch in der Vergangenheit schon öfter angesprochen habe (tatsächlich habe ich in dem Text ja auf einige ältere Artikel verlinkt). Ganz so selbstverständlich aber scheinen sie mir nicht zu sein - jedenfalls höre und lese ich oft genug auch ganz andere Argumente, und durchaus nicht nur von Menschen, die sich mit der Materie nicht auskennen. Andrew Moravcsik, Richard Bellamy oder Giandomenico Majone sind nur ein paar der bekanntesten Politikwissenschaftler, die (mit im Detail unterschiedlichen Ansichten) die EU noch immer als eine im Wesentlichen intergouvernementale oder technokratische Institution betrachten. Die Forderung, dass die nationalen Regierungen ihre Wirtschaftspolitik zwar selbst gestalten, diese aber als "Angelegenheit von gemeinsamem [europäischem] Interesse" betrachten sollen, findet sich beispielsweise in Art. 121 AEUV. Die These, dass die EU nur das Richtige tun müsste, um die Leute wieder von sich zu überzeugen, hat beispielsweise der sonst von mir sehr geschätzte Timothy Garton Ash erst kurz nach der Europawahl in einem Artikel im Guardian vertreten (worauf ich hier ausführlicher eingegangen bin). Und die Vorstellung, dass Legitimation für die EU über die nationalen Parlamente entstehen könnte, scheint mir wenigstens im deutschen europapolitischen Diskurs geradezu hegemonial zu sein; ausführlicher (und mit einigen Beispielen) habe ich mich dazu hier geäußert.

      Deshalb: Doch, es ist leider immer noch nötig, diese Punkte anzusprechen. Wenn sie wirklich schon so allgemein anerkannt wären, wie sie Ihnen erscheinen, wäre die EU heute vermutlich in einem weitaus besseren Zustand.

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